Tierzüchtung
Grundzüge der Zuchtwertschätzung (Schwein)

Ziel aller Selektionsmaßnahmen ist die Rangierung von Tieren nach ihrer genetischen Veranlagung und die Weiterzucht mit den besten Tieren. Grundsätzlich wäre dies bereits mit Hilfe einer Leistungsprüfung möglich. Es ist jedoch bekannt, dass Leistungen nicht nur durch die genetische Veranlagung, sondern auch durch eine Reihe von Umweltfaktoren beeinflusst werden. Ziel der Zuchtwertschätzung ist es also, die Daten aus einer Leistungsprüfung so aufzubereiten, dass die Tiere mit der geeignetsten genetischen Veranlagung für die Zucht identifiziert werden können.

Das Genom des Schweins besteht aus einer großen Zahl von Genen. Die genaue Anzahl der Gene ist nicht bekannt, wir wissen jedoch, dass für die Ausprägung aller Leistungseigenschaften einige tausend Gene verantwortlich sind. Jedes Tier erhält jeweils die Hälfte seiner Gene vom Vater und der Mutter. Da die Gene zum einen auf verschiedenen Chromosomen liegen und zum anderen bei der Bildung von Eizellen und Spermien Abschnitte paariger Chromosomen ausgetauscht werden, enthält jede Eizelle und jedes Spermium eine zufällige Stichprobe der Gene des jeweiligen Elters. Damit erklärt sich, warum sich die Geschwister in einem Wurf zwar ähnlich sind, dass aber mit Ausnahme eineiiger Zwillinge niemals zwei identische Tiere auftreten.
Beide Eltern haben die gleiche Bedeutung für die Qualität der genetischen Ausstattung eines Tieres! Diese genetische Ausstattung bezeichnet man auch als den Genotypwert des Tieres. Ob sich ein guter Genotypwert auch in einer guten Leistung äußert hängt davon ab, ob die Umweltbedingungen eine Entfaltung des genetischen Potentials zulassen. Wenn ein Tier viele Nachkommen in allen möglichen Umweltbedingungen hat, kann man davon ausgehen, dass sich positive und negative Einflüsse gegenseitig aufheben. In dieser Situation gibt die durchschnittliche Leistung der Nachkommen einen Hinweis auf die genetische Ausstattung des Tieres selbst.
Wenn ein bestimmter Eber von seinen Eltern bessere Gene geerbt hat als sein Bruder, kann er naturgemäß auch nur bessere Gene an seine Nachkommen weitergeben. Der schlechtere Bruder dagegen hat diese Gene gar nicht mitbekommen und kann sie demzufolge auch nicht weitergeben. Daher genügt es für die Selektion nicht, nur die genetische Ausstattung der Eltern (gemessen als Durchschnitt der Nachkommen) zu kennen, sondern man muss jeden einzelnen Nachkommen wiederum prüfen, um zu erkennen, ob er überwiegend gute oder schlechte Gene geerbt hat. Durch die Auswahl der genetisch besseren Nachkommen verschwinden allmählich die schlechteren Gene aus der Population und alle Tiere werden genetisch besser. Dies bezeichnet man als Zuchtfortschritt.
Bei der im Jahr 2016 in Bayern eingeführten genomischen Zuchtwertschätzung handelt es sich um ein Verfahren, mit dem man den individuellen Zuchtwert eines Tieres schätzen kann, selbst wenn man nichts weiter als seinen Genotyp kennt. Ein solcher Zuchtwert , der z.B. bereits für ein Ferkel geschätzt werden kann, hat eine deutlich höhere Sicherheit als der Pedigreezuchtwert. Damit können wesentlich genauer Selektionsentscheidungen zwischen Kandidaten getroffen werden, ohne Eigen- oder Nachkommenleistungen abwarten zu müssen. Dieser Zeitgewinn ist besonders bei Fruchtbarkeitsmerkmalen von großem Interesse.

Definition des Zuchtwerts

Befasst man sich mit der Zuchtwertschätzung, so sollte zunächst einmal der Begriff des Zuchtwerts eindeutig definiert werden.
Der Zuchtwert eines Tieres entspricht dem Zweifachen der Leistungsabweichung vieler Nachkommen dieses Tieres im Vergleich mit dem Durchschnitt der Population.
Zunächst einmal stellt sich natürlich die Frage, warum der Zuchtwert dem Zweifachen der Leistungsabweichung der Nachkommen eines Tieres entspricht. Die Antwort ist einfach: Jeder Nachkomme erbt genau die Hälfte seiner Gene von jedem seiner Eltern. Insofern ist die Leistungsabweichung der Nachkommen eines Tieres auf die Wirkung einer Stichprobe von 50 % der Gene des Tieres zurückzuführen. Könnte der Nachkomme alle Gene von einem Elter erben, würde man eine doppelt so hohe Leistungsabweichung erwarten. Aus diesem Grunde multipliziert man den "gemessenen" Wert mit zwei.

Aus dieser Zuchtwertdefinition lassen sich noch einige weitere interessante Schlussfolgerungen ziehen:

  • Der Zuchtwert ist auf der Basis der Leistungsabweichung vieler Nachkommen eines Tieres definiert. Jeder Nachkomme erbt zwar genau die Hälfte der Gene von jedem Elter, das bedeutet aber nicht, dass jeder Nachkomme genau dieselben Gene von jedem Elter bekommt. Vielmehr stellen die Gene eines Elters bei einem Nachkommen eine Zufallsstichprobe aller Gene des Elters dar und erst bei Messung vieler Nachkommen stabilisiert sich der Schätzwert für den gesamten Genbestand des Elters.
    Aus diesem Grund ist es nicht möglich, die Leistung oder auch nur den Zuchtwert eines einzelnen Nachkommen mit Sicherheit vorherzusagen. Dies gilt selbst dann, wenn die Sicherheit der Zuchtwertschätzung für den Elter 100 Prozent beträgt.
  • Da der Zuchtwert als Abweichung vom Durchschnitt einer bestimmten Population berechnet wurde, gilt er auch nur innerhalb dieser Population. Theoretisch ist es zwar möglich, einen Zuchtwert aus einer Population in den einer anderen Population umzurechnen. Hierzu ist es allerdings erforderlich, dass die andere Population genau dieselben genetischen Parameter aufweist, wie die alte Population und dass der Unterschied im genetischen Niveau der beiden Populationen genau bekannt ist. Wie wir später noch sehen werden, sind dies sehr hohe Anforderungen, die derzeit kaum erfüllt werden können.
    Hieraus folgt unmittelbar, dass Vergleiche von Zuchtwerten zwischen verschiedenen Zuchtverbänden, Bundesländern oder gar Ländern überhaupt keinen Sinn ergeben, selbst wenn die Zuchtwerte ähnlich aussehen und nach demselben Verfahren ermittelt wurden.
  • Eine weitere wichtige Schlussfolgerung ist, dass der Durchschnitt aller Zuchtwerte in einer Population gleich Null ist. Es ist eine mathematische Gesetzmäßigkeit, dass die Summe aller Abweichungen einer Gruppe von Werten von ihrem Durchschnittswert immer Null ergeben muss. Wenn die Summe der Abweichungen Null ist, muss folglich auch der Durchschnitt gleich Null sein.
Bisher war im Zusammenhang mit dem Zuchtwert immer nur von Nachkommen die Rede. Natürlich kann aber jeder Verwandte Informationen über den Zuchtwert eines Tieres liefern. Der Wert dieser Informationen hängt jedoch stark von der Enge der Verwandtschaft ab. Die genauen Zusammenhänge werden später erläutert.

Allgemeine Prinzipien der Zuchtwertschätzung

Bevor wir uns mit den Verfahren der Zuchtwertschätzung befassen, sei zunächst einmal erläutert, nach welchen Prinzipien die Zuchtwertschätzung (ZWS) generell durchgeführt wird. Diese Prinzipien sind für alle Verfahren gleich.
Der ZWS liegt die Annahme zugrunde, dass sich die Leistung eines Tieres aus der gemeinsamen Wirkung von Genetik und Umwelt erklären lässt. Die Genetik entspricht dabei dem Zuchtwert des Tieres. Damit ergibt sich folgende Formel:
Hieraus folgt:
Leistung = Zuchtwert + Umwelteinfluss
Zuchtwert = Leistung - Umwelteinfluss
Das Problem hierbei ist, dass sich der Umwelteinfluss nicht direkt messen lässt. Messen können wir nur die Leistung selbst. Einen Ausweg aus dieser Problematik bietet die oben erwähnte Eigenschaft der Zuchtwerte, dass ihr Durchschnitt gleich Null ist. Betrachtet man den durchschnittlichen Wert vieler Leistungen, so ergibt sich:
ØLeistung = ØZuchtwert + ØUmwelteinfluss
Da der Durchschnitt aller Zuchtwerte gleich Null ist, ergibt sich:
ØLeistung = ØUmwelteinfluss
Wie wir bereits wissen, gilt diese Bedingung streng genommen nur dann, wenn Tiere der Population in diesen Durchschnittswert eingehen. Wenn die Zahl der Tiere jedoch hinreichend groß ist (über 500), kann man aber davon ausgehen, dass der durchschnittliche Zuchtwert dieser Tiere nahe bei Null liegt. Dies war der Hauptgrund für die Einrichtung von Mastleistungsprüfungsanstalten. Man wollte eine große Zahl von Tieren unter gleichen Umweltbedingungen prüfen, um einen guten Schätzwert für den durchschnittlichen Umwelteinfluss zu erhalten.
Leider hat dieses System nie perfekt funktioniert. Auch in der LPA unterliegt die Umweltqualität gewissen Schwankungen (Futterqualität, Klima, Stallpersonal). Diese müssen natürlich berücksichtigt werden, damit alle Tiere gerecht behandelt werden. Das führt aber dazu, dass man nicht mehr sehr viele Tiere für die Durchschnittsberechnung zur Verfügung hat, sondern nur noch einige Tiere. Damit wurde der Weg zur sogenannten Vergleichsgruppe beschritten. Unter einer Vergleichsgruppe versteht man eine Gruppe von Tieren, bei denen angenommen werden kann, dass alle wesentlichen Umwelteinflüsse für alle Tiere der Gruppe identisch waren. Die durchschnittliche Leistung der Gruppe wurde als Vergleichswert bezeichnet.
Will man den Zuchtwert eines Tieres schätzen, benötigt man neben der Leistungsabweichung auch noch einen Gewichtungsfaktor, der von der Erblichkeit des Merkmals und der Verwandtschaft zwischen dem Tier, das die Information liefert und dem Tier, für das ein Zuchtwert geschätzt werden soll, berücksichtigt.
Damit ergibt sich die Grundformel der ZWS:
Zuchtwert = Faktor * (Leistung - Vergleichswert)
Wenn in den Vergleichswert nur eine begrenzte Anzahl Tiere eingeht, kann man nicht mehr davon ausgehen, dass der durchschnittliche Zuchtwert der Tiere in der Vergleichsgruppe gleich Null sei. Der so geschätzte Zuchtwert entspricht also dem wahren Zuchtwert abzüglich des durchschnittlichen Zuchtwerts der Vergleichstiere:
gesch. Zuchtwert = Faktor*(Leistung – Vergleichswert)
gesch. Zuchtwert = Faktor*(Leistung – (ØUmwelteinfluss + ØZuchtwert))
gesch. Zuchtwert = wahrerZuchtwert – Faktor* ØZuchtwert
Der geschätzte Zuchtwert entspricht damit in der Regel nicht mehr dem wahren Zuchtwert. Wenn ein Tier bei gleicher Leistung mit guten Vergleichstieren verglichen wird, erhält es einen schlechteren Zuchtwert, als wenn es mit schlechten Vergleichstieren verglichen wird (und umgekehrt). Der Statistiker bezeichnet einen solchen Schätzwert als verzerrten Schätzwert, da er nicht genau das schätzt, was er schätzen soll.
Man sitzt also mit der Zuchtwertschätzung zwischen zwei Stühlen: Erhöht man die Anzahl Tiere in der Vergleichsgruppe, sind die Umweltbedingungen nicht mehr für alle Tiere gleich, aber dafür die Verzerrung gering. Verkleinert man die Vergleichsgruppe, sind die Umweltbedingungen gut erfasst, aber die Verzerrung nimmt zu.