Zuchtwertschätzung für das Melkverhalten
Dem Tierverhalten und besonders dem Melkverhalten (MVH) einer Kuh wird in der Praxis große Bedeutung zugemessen. Neben dem Aspekt der Unfallverhütung beeinträchtigen nervöse, teilweise auch aggressive Tiere den Betriebsablauf und den Melkvorgang in nicht unerheblichem Maße.
Zwar gab es schon seit einigen Jahren eine genomische Two-Step-Zuchtwertschätzung für das Merkmal, da aber die Vorhersagekraft des Zuchtwerts bei genomischen Jungvererbern für den später vorliegenden töchterbasierten Zuchtwert zu unsicher war, wurde auf die Veröffentlichung von Zuchtwerten verzichtet. Bis zum Jahr 2021 erfolgte auf der Basis des (unveröffentlichten) genomischen Zuchtwerts nur die Kennzeichnung des "Mangels Nervosität" im Balkendiagramm Exterieur bei geprüften Bullen mit mindestens 20 Töchtern. Informationen für genomische Jungvererber lagen nicht vor.
In der Zwischenzeit haben sich deutliche Verbesserungen in der Datenerfassung und der Zuchtwertschätzung ergeben. Mit der Einführung der neuen Single-Step-Zuchtwertschätzung und der rasanten Zunahme von Informationen genotypisierter Kühe hat sich die Situation geändert. Umfangreiche Validierungsstudien zeigen eine ausreichende Sicherheit für die züchterische Nutzung und die Einführung offizieller Zuchtwerte, die erstmals im August 2021 erfolgte.
Datengrundlage für die Zuchtwertschätzung (ZWS) Melkverhalten
Die Datenerfassung erfolgt anhand einer 4-teiligen Skala (Tabelle 1). Um eine Vergleichbarkeit der Ergebnisse über Ländergrenzen hinweg zu erreichen, wurden die Ausprägungen der einzelnen Stufen der Skala exakt definiert. So gilt als Definition für den Normalfall "unauffälliges Melkverhalten": die ganz normale Kuh in der Herde, die der Bauer beim Melken und in der Herde als unauffällig bezeichnet oder gar nicht bewusst wahrnimmt. Zusätzlich wurden für "sehr ruhiges Verhalten" und "stark nervöses Melkverhalten" Richtwerte für die Häufigkeit der Merkmalsausprägung vorgegeben (Tabelle 1). Dies war insbesondere für das "sehr ruhige Verhalten" notwendig, da sich in der ersten Phase nach der Umstellung auf eine vierstufige Skala deutliche Unterschiede zwischen Bewertern gezeigt hatten, die sich teilweise aus der Art der Fragestellung bei der Merkmalserfassung ergaben.
4 = sehr ruhiges Verhalten | ca. 10 Prozent |
---|---|
5 = unauffälliges Verhalten | Normalfall |
6 = leicht nervös | |
7 = stark nervös | maximal 5 Prozent |
Land | Fleckvieh Tiere MVH (n) | Fleckvieh genotypisiert (n) | Brown Swiss Tiere MVH (n) | Brown Swiss genotypisiert (n) |
---|---|---|---|---|
Baden-Württemberg | 201.383 | 7.707 | 64.785 | 6.285 |
Bayern | 755.142 | 59.212 | 125.675 | 10.252 |
Hessen | 14.113 | 129 | ||
Österreich Nachzuchtbewertung | 264.439 | 14.376 | ||
Österreich Kontrollorgan | 170.794 | 11.150 | 22.702 | 1.306 |
Tschechien | 145.007 | 2.024 | ||
Gesamt | 1.550.878 | 94.598 | 213.162 | 17.843 |
Single-Step-Zuchtwertschätzung für das Melkverhalten
Die Single-Step-Zuchtwertschätzung (SST-ZWS) ermöglicht es, Typisierungsergebnisse von Kühen in die Lernstichprobe zu integrieren. Die Anzahl typisierter Kühe hat sich durch die Kuhlernstichprobenprojekte Braunvieh-Vision sowie beim Fleckvieh durch FLEQS in Bayern, FoKUHs in Österreich und FLECKfficient in Baden-Württemberg rasant erhöht.
In der SST-ZWS werden genomische Zuchtwerte direkt, d. h. in einem Schritt, für alle männlichen und weiblichen Tiere geschätzt. Es werden für alle Tiere genomisch optimierte Zuchtwerte berechnet, und es gibt keine konventionellen und genomisch direkten Zuchtwerte mehr. Da die Informationen von genotypisierten Kühen, vor allem derjenigen mit einer Beobachtung des Melkverhaltens, direkt ins Schätzsystem einfließen, werden alle vorhandenen Informationen optimal genutzt, und die Schätzung genomischer Zuchtwerte wird zuverlässiger. Aber nicht nur die genotypisierten Kühe werden Teil der Lernstichprobe, sondern auch Tiere mit eigener Leistung ohne Typisierungsergebnisse tragen ihre Informationen zum Schätzsystem bei. Hierdurch werden auch Verzerrungen der Zuchtwerte durch das Problem der sogenannten "genomischen Vorselektion" verhindert und das Zuchtwertschätzsystem langfristig stabilisiert.
Single-Step-Zuchtwertschätzung auf Basis eines Tiermodells
wobei:
yijklmnopq | Beobachtungswerte für das Merkmal Y |
M | Gesamtmittel |
BJi | fixer Effekt des Beurteilers * Jahr |
JSj | fixer Effekt der Jahr-Saisonklasse |
Knk | fixer Effekt der Kalbenummer der Mutter |
Akl | fixer Effekt für den Abstand zur Kalbung |
Abmm | fixer Effekt für den Abstand vom Melken |
Ekan | fixer Effekt des Erstkalbealters |
Betro | fixer Effekt für den Betrieb oder Region * Herden-jahreseffekt * Jahr |
BJp | zufälliger Effekt Betrieb * Jahr |
Tierq | zufälliger Effekt für das Tier |
eijklmnopqr | zufälliger Restfehler |
Zur genaueren Berücksichtigung der Abstammung von Tieren mit unbekannten Vorfahren werden in der Zuchtwertschätzung Zuchtwerte für genetische Gruppen geschätzt. Beim Berechnen dieser Zuchtwerte werden das Herkunftsland und das durchschnittliche Geburtsjahr (abhängig vom Geburtsjahr des Tieres) des unbekannten Ahnen berücksichtigt. Im Gegensatz zu den Exterieurmerkmalen erfolgt beim Melkverhalten keine Korrektur um unterschiedliche Bewerterstreuungen.
Für das MVH wurde bei Fleckvieh eine Heritabilität von 5,3 Prozent und bei Brown Swiss von 5,0 Prozent geschätzt. Diese liegen somit niedriger als bei den sonstigen Exterieurmerkmalen, die zwischen 47 Prozent (Kreuzhöhe) und 8 Prozent (Trachtenhöhe) liegen.
Validierungsstudien vor der Einführung des neuen Zuchtwerts
N | Zuchtwert | Sicherheit (%) | |
---|---|---|---|
Typisierte Kühe | 46.471 | 101,4 ± 5,7 72–123 | 48,0 ± 4,5 40–64 |
Bullen mit mind. 20 Töchtern | 2.453 | 100,0 ± 6,0 70–120 | 65,2 ± 8,6 44–98 |
Kandidaten ab GJ 2017 | 10.154 | 101,9 ± 5,6 77–122 | 46,6 ± 4,3 40–60 |
N | Zuchtwert | Sicherheit (%) | |
---|---|---|---|
Typisierte Kühe | 285.538 | 100,2 ± 4,5 76–122 | 58,3 ± 4,7 40–83 |
Bullen mit mind. 20 Töchtern | 11.365 | 98,9 ± 5,5 70–121 | 73,8 ± 7,2 44–99 |
Kandidaten ab GJ 2017 | 77.621 | 100,3 ± 4,4 78–119 | 58,7 ± 4,3 40–70 |
Zusammenhänge zwischen Phänotyp und Zuchtwert
Bulle | Geburts- jahr | Töchter MVH | ZW MVH Sicherheit | Gewichtete Häufigkeit | Nervosität leicht | Nervosität stark |
---|---|---|---|---|---|---|
SIMVITEL 20/78380 | 1992 | 815 | 91 96% | 6,0% | 3,0% | 1,5% |
PAYSSLI 10/435070 | 2005 | 1680 | 92 97% | 11,2% | 6,0% | 2,6% |
PAYLENG 10/435201 | 2011 | 193 | 89 80% | 14,5% | 5,2% | 4,7% |
AG HERCULES 10/354860 | 2012 | 185 | 77 81% | 27,0% | 14,1% | 6,5% |
GLARUS 10/344750 | 2016 | 176 | 79 79% | 23,3% | 11,9% | 5,7% |
VINTOR 10/435235 | 2014 | 188 | 115 80% | 3,7% | 3,7% | --- |
ANIBAY 10/435228 | 2013 | 465 | 118 89% | 3,0% | 2,2% | 0,4% |
VASSLI 10/435179 | 2010 | 1505 | 113 96% | 7,2% | 5,6% | 0,8% |
VASIR 10/342595 | 2003 | 716 | 115 96% | 3,2% | 1,2% | 1,0% |
ETVEI 10/350336 | 1999 | 1242 | 110 97% | 3,5% | 1,9% | 0,8% |
Bulle | Geburts- jahr | Töchter MVH | ZW MVH Sicherheit | Gewichtete Häufigkeit | Nervosität leicht | Nervosität stark |
---|---|---|---|---|---|---|
REXON 11/7598 | 1989 | 462 | 76 97% | 23,4% | 8,2% | 7,6% |
RESOLUT 10/605461 | 2004 | 102 | 80 78% | 32,4% | 14,7% | 8,8% |
ENDELL 10/175614 | 2010 | 457 | 74 90% | 25,6% | 17,7% | 3,9% |
WALFRIED 10/605904 | 2010 | 1754 | 87 96% | 21,5% | 14,5% | 3,5% |
GS HUT AB 10/606257 | 2016 | 1293 | 86 95% | 22,6% | 16,8% | 2,9% |
EMMERICH 10/606248 | 2015 | 1122 | 112 95% | 8,2% | 6,1% | 1,1% |
VAUXAL 10/605894 | 2010 | 282 | 111 89% | 7,5% | 3,9% | 1,8% |
INNTAL 10/605877 | 2009 | 100 | 114 76% | 4,0% | 2,0% | 1,0% |
RAMIG 10/166028 | 2004 | 834 | 115 95% | 6,2% | 4,9% | 0,7% |
REDER 01/21610 | 1989 | 479 | 107 96% | 2,5% | 1,3% | 0,6% |
Keine negativen Auswirkungen auf andere Merkmale
Die Ausweisung eines Optimalbereichs für das Merkmal wird deshalb aktuell als nicht notwendig erachtet, die weitere Entwicklung wird aber im Auge behalten.
Bedachtsame Bullenauswahl
Ansprechpartner
Dr. Dieter Krogmeier und Dr. Eduardo Pimentel
Bayerische Landesanstalt für Landwirtschaft
Institut für Tierzucht
Prof.-Dürrwaechter-Platz 1
85586 Poing-Grub
Tel.: 08161 8640-7142
Fax: 08161 8640-5555
E-Mail: Tierzucht@lfl.bayern.de