Lahme Kühe in Milchviehbetrieben verursachen teilweise hohe Kosten durch Leistungsrückgang, verlängerte Güstzeiten, Mehrarbeit durch das Treiben, wenn sie sich nicht mehr eigenständig zu Futter und Melkstand begeben sowie aufgrund von Mehraufwand wegen zusätzlicher Klauenpflegemaßnahmen. Zudem waren laut dem LKV Bayern 2014 Lahmheiten und Gliedmaßenerkrankungen die dritthäufigste Abgangsursache bei Milchkühen in Bayern. Je länger eine Lahmheit andauert, desto höher sind die Dauer und Kosten der Heilung. Indirekte Folgen wie verringerte Futteraufnahme, Stoffwechselerkrankungen und Reproduktionsstörungen werden bei andauernder Lahmheit immer schwerwiegender. Deshalb ist es umso wichtiger, so früh wie möglich einzugreifen. Landwirte unterschätzen jedoch den Anteil der lahmen Tiere in ihrer Herde teilweise um bis zu 75 %.
Problem der Wahrnehmung
Es handelt sich hier also um eine Diskrepanz zwischen Wahrnehmung und den tatsächlich vorherrschenden Verhältnissen. Leider werden Schmerzen und Leiden, die durch Lahmheiten verursacht sind, beim Rind häufig unterschätzt. Ein Grund ist das natürliche Verhalten der Tiere als Beutetier. Potentielle Beutegreifer wählen immer das schwächste Tier der Herde. Eine Kuh, die also Anzeichen für eine Krankheit, in dem Fall eine Klauenerkrankung, zeigt, erscheint als leichte Beute. Deshalb verstecken Kühe ihre Schmerzen bei der Fortbewegung so lang wie möglich und erst, wenn die Stärke der Schmerzen einen bestimmten Grad übersteigt, werden sie nach außen hin in Form einer Lahmheit sichtbar.
Wenn ein Tier also eindeutig lahm geht, ist die zugrundeliegende Erkrankung meist schon weiter fortgeschritten und es muss so schnell wie möglich eingegriffen werden. Zudem hat die Arterhaltung in der Natur immer die höchste Priorität. Die Versorgung des Nachwuchses muss demnach so lang wie möglich gewährleistet sein und die Milchproduktion geht im Falle einer Unterversorgung oder Krankheit bei der Kuh als letztes zurück. Im Gegensatz zu der häufig vertretenen Meinung, dass es der Kuh noch gut geht solange sie Milch gibt, ist deshalb nicht korrekt.
Verbesserung der Wahrnehmung
Um die Klauengesundheit im Stall zu verbessern, muss also die Erkennung und Einschätzung der auftretenden Lahmheiten verbessert werden. Das Tierschutzgesetz §11 schreibt unter anderem hierfür „betriebliche Eigenkontrollen“ und damit die Erhebung sogenannter „Tierschutzindikatoren“ vor. Um dem zu entsprechen und eine sachlich richtige Einschätzung zu erzielen, muss die Lahmheitskontrolle regelmäßig und systematisch erfolgen. Um Regelmäßigkeit zu erreichen, muss die Methode der Erfassung einfach in den Arbeitsalltag zu integrieren sein.
Es ist möglich, die Beurteilung im Stand während der Hauptfütterungszeiten vom Futtertisch oder Futtergang aus oder zu Melkzeiten direkt im Melkstand durchzuführen. Diese Methode ist mit geringerem Arbeitsaufwand verbunden und deshalb dazu geeignet, die Beurteilung öfter durchzuführen. Es soll hierbei auf die Rückenkrümmung, Entlastungshaltungen sowie äußeres Erscheinungsbild der Gliedmaßen, um z. B. Schwellungen zu erkennen, geachtet werden.
Lahmheiten, die erst in der Bewegung sichtbar werden, können so jedoch nicht beurteilt werden. Für eine genauere Einschätzung ist deshalb die Verwendung eines Locomotionscore-Systems (s. u.) notwendig, bei dem der Gang der Tiere nach festen Regeln benotet wird. Das ist z. B. am Ausgang des Melkstandes möglich. Diese Methode ist zwar genauer und sollte deshalb ebenso in die betriebliche Eigenkontrolle einbezogen werden. Sie ist aber auch zeitlich aufwendiger und deshalb weniger oft durchführbar. Das wichtigste ist, dass überhaupt regelmäßige und systematische Lahmheitsbeurteilung stattfindet, denn nur durch beiläufige Beobachtung während der alltäglichen Arbeitsroutinen werden wir eingangs erwähnt zu viele erkrankte Tiere übersehen.
Je nach Betriebssituation muss also ein Kompromiss zwischen Umsetzbarkeit und Genauigkeit gefunden werden. Für jedes System gilt zusätzlich, dass die Einschätzung des Einzeltieres auch klar definierte Konsequenzen hat. Zu viele Stufen in der Benotung sind dabei hinderlich. Besser ist ein System mit wenigen Punkten, bei dem es möglich ist, Handlungsempfehlungen zu den jeweiligen Noten zuzuordnen, sodass gewährleistet ist, dass lahme Tiere nicht nur erkannt, sondern auch dem Ergebnis der Beurteilung entsprechend untersucht und behandelt werden.
Um die angesprochenen Anforderungen an ein Beurteilungssystem zu erfüllen, wurde im Rahmen eines aktuellen Versuches an der Bayerischen Landesanstalt für Landwirtschaft, ein dreistufiger Locomotionscore entwickelt, der dank seiner Übersichtlichkeit nicht nur in der Forschung, sondern auch in der Praxis seine Anwendung finden soll.
Dreistufiger Locomotionscore
Bei dem drei-Punkte Locomotionscore wird zuerst das allgemeine Gangbild betrachtet; wirkt der Gang ungleichmäßig oder asymmetrisch, ist die Kuh als lahm zu bewerten und umgehend zu untersuchen und bei Bedarf zu behandeln. Ist der Gang gleichmäßig und symmetrisch, werden noch die Rückenkrümmung, die Kopfbewegung und die Haltung beurteilt; ist der Rücken krumm, wird eine Gliedmaße entlastet oder erfolgt ein Kopfnicken, ist das Tier als „verdächtig“ einzustufen und muss weiterhin beobachtet werden. Tritt keins der oben genannten Merkmale auf und ist der Gang gelichmäßig, ist die Kuh als „gesund“ einzustufen.
Durch den Verzicht auf eine Unterscheidung zwischen „leicht“, „mittelmäßig“ und „schwer“ lahm wird vermieden, dass die Wahrnehmung des Grades der Lahmheit und des damit verbundenen Schmerzes die Unmittelbarkeit der Untersuchung und der Behandlung hindert.
Untersuchungen zur Genauigkeit des drei-Punkte Locomotionscores haben die Wiederholbarkeit bestätigt: die Übereinstimmung der Locomotionscores die zwei Beurteiler den gleichen Kühen unabhängig voneinander zugewiesen haben beträgt 80 %, während die Übereinstimmung der Scores die ein Beurteiler den gleichen Tieren in der gleichen Videoaufnahme an zwei unterschiedlichen Tagen zugewiesen hat beträgt 82 %.
Versuch an der Landesanstalt für Landwirtschaft
In einem aktuellen Versuch am Institut für Landtechnik und Tierhaltung wird der Zusammenhang zwischen Verhalten- und Leistungsparameter und die Klauengesundheit von Milchkühen auf Praxisbetrieben überprüft. Die Datenerfassung fand zwischen April 2017 und Juni 2018 auf vier Praxisbetrieben und auf dem Versuchsbetrieb in Grub statt. Während der Versuchsphase, wurden alle Tiere mit einem Pedometer ausgestattet, um das Verhalten der Kühe kontinuierlich zu erfassen. Zusätzlich wurde im zwei-Wochen Rhythmus ein Locomotionscore aller Tiere über Videoaufnahmen der Melkzeiten durchgeführt. Die lahmen Tiere wurden anschließend untersucht und gegebenenfalls behandelt. Die Kühe, die für sechs aufeinanderfolgende Wochen als „verdächtig“ eingestuft wurden, wurden auf Schmerzhaftigkeit der Klauen mit einer Klauenabdruckzange untersucht. Somit konnte auch überprüft werden, ob die Tiere die als lahm bzw. als „verdächtig“ eingestuft wurden, auch Klauenläsionen hatten.
Die durchschnittliche monatliche Lahmheitsprävalenz betrug je nach Betrieb zwischen 2% und 14% und schwankte je nach Monat und Jahreszeit. Die Anzahl der klinischen Befunde an den Klauen hing mit der durchschnittlichen Lahmheitsprävalenz zusammen und stieg für drei Betriebe im Herbst und im Frühjahr an.
Die Verfügbarkeit von täglichen Videoaufnahmen ermöglichte eine genaue Analyse der Lahmheitsentwicklung; lahme Kühe wurden in den Videoaufnahmen zurückverfolgt und der Zeitpunkt des Lahmheitsbeginns konnte somit genau erfasst werden. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass sich die meisten Lahmheiten innerhalb von 7 bis 14 Tage entwickeln.
Die Untersuchungen der „verdächtigen“ Kühen lieferten auch interessante Einblicke in das Schmerzverhalten der Tiere; über die Hälfte (52 %) der untersuchten Tiere hatten entweder Schmerzen oder klinische Befunde und konnten somit als lahm eingestuft werden.
Fazit
Es konnte also nachgewiesen werden, dass bereits kaum sichtbare Lahmheiten ein Zeichen deutlich vorangeschrittener Klauenerkrankungen sein können. Mit dem Eingreifen abzuwarten bis eine vorliegende Lahmheit einen gewissen Schweregrad übersteigt, ist unbedingt zu vermeiden, da sich dadurch nur die Dauer der Erkrankung, die Schmerzen und Leiden des Tieres sowie wirtschaftliche Verluste als Folge der Erkrankung steigern. Keinesfalls ist die Milchleistung als Tierwohl-Indikator zu sehen, da diese erst bei höchstgradiger Überlastung des Gesamtorganismus zurückgeht.
Dr. Katharina Grimm und Isabella Lorenzini, Institut für Landtechnik und Tierhaltung der LfL