Bestimmung der Tiergerechtheit

Verbraucher tierischer Lebensmittel zeigen immer mehr Interesse dafür, wie die Tiere gehalten werden, von denen die Lebensmittel stammen. Folglich ist es notwendig, die Haltungssysteme für landwirtschaftliche Nutztiere auch auf Tiergerechtheit zu überprüfen. Einerseits, um das Einhalten der gesetzlichen Vorschriften nachzuprüfen, andererseits, um dem Verbraucher das Vertrauen in tierisch erzeugte Lebensmittel geben zu können.

Blick in Liegehalle für Milchkühe und Mutterkühe im Auslauf

Zielsetzung

Die Beurteilung von Haltungssystemen mit Hilfe von Tiergerechtheitsindices (TGI) geht über die gesetzlichen Haltungsvorschriften hinaus und überprüft den „Grad der Tiergerechtheit“. Mit Hilfe einer objektiven und replizierbaren Bewertung sollte bei 34 Betrieben aus dem Rinder-, Schweine- und Geflügelsektor im Rahmen des Projektes „Pilotbetriebe artgerechte Tierhaltung“ gezeigt werden, wie „tiergerecht“ die landwirtschaftlichen Tierhaltungen sind.

Methode

31 von 34 ausgewählten Pilotbetrieben (18 Rinder-, 9 Schweine-, 4 Geflügelbetriebe) wurden je 1x im Sommer und Winter auf Tiergerechtheit untersucht und bewertet.
Zum Einsatz kamen für jede Tierart speziell entwickelte Bewertungsbögen. Im Bereich Milchvieh wurde die von KNIERIM und WINCKLER (2002) entwickelte Checkliste verwendet. Diese Checkliste kombiniert mit einer Tierbeurteilung ist eine praktikable Version eines Bewertungssystems im Bereich Milchviehhaltung.

Mit Hilfe einer Checkliste wurden die für die Milchkuh wichtigen Funktionsbereiche Liegen, Bewegung, Fressen, Tränke und Komfort überprüft und mit +, ± und – bewertet.

  • + = positive Beurteilung
  • ± = Änderung sollte erwogen werden
  • - = Änderung dringend erforderlich
Blick in einen Stall

Milchviehstall mit verschiedenen Funktionsbereichen

Dokument

Teil einer Checkliste für den Funktionsbereich Liegen

Zusätzlich wurde ein Teil der Herde einer genauen Bewertung des Integuments nach Verletzungen und Verschmutzungen unterzogen (siehe Anhang). Der Verschmutzungsgrad wurde an 7 Körperzonen mittels folgendem Notenschlüssel erhoben:
  • 0,0 = keine Verschmutzung/ Vernässung
  • 0,5 = vereinzelte, geringgradige Verschmutzung/ Vernässung
  • 1,0 = verbreitete Verschmutzung/ Vernässung, aber weniger als 50% der jeweiligen Körperzone
  • 1,5 = verbreitete Verschmutzung, mehr als 50% der jeweiligen Körperzone
  • 2,0 = ganzflächige Verschmutzung/ Vernässung, bzw. eine Verschmutzung der Körperzone mit dicken Krusten
Für die Fresser- und die Mastbullenbetriebe wurde eine an das System der Milchvieh-Checkliste angelehnte neue Checkliste entworfen. Grundlage für die Checklisten für die Mastschweine- und Zuchtsauenbetriebe ist ein von BORELL (2002) entwickeltes Bewertungssystem. Die Geflügelbetriebe wurden mit einem an den Tiergerechtheitsindex für Legehennen (BARTUSSEK, 1995) angelehnten Schema bewertet.

Ergebnisse

Rinderhaltung

Es wurden insgesamt 12 Milchvieh-, 3 Mutterkuh-, 2 Mastrinderställe und 1 Kälberstall im Hinblick auf Tiergerechtheit bewertet, wobei hier nur auf die Milchviehbetriebe eingegangen werden soll. Bei fast allen neugebauten Ställen wurde sehr viel Wert darauf gelegt, den Tieren möglichst geräumige, rutschfeste Laufflächen sowie komfortable Liegeflächen zu bieten. In den Milchviehställen fanden sich fast ausschließlich Boxenlaufställe mit eingestreuten Tiefboxen sowie ein Tretmiststall.
Die Auswertung der Tiergerechtheit zeigte, dass vereinzelt Mängel im Lauf-, Liege und Fressbereich auftraten. Die Laufgänge, speziell die Quergänge, waren in einigen Betrieben nicht ausreichend breit, vor allem bei gleichzeitiger Anordnung von Tränken oder Scheuereinrichtungen. Weitere Mängel wurden im Liegebereich festgestellt. Vor allem zu hohe Bugschwellen und ungünstige Seitenabtrennungen behindern die Kühe beim Liegen. Bei der Wasserversorgung geht der Trend eindeutig zu großvolumigen Trogtränken bei den laktierenden Kühen. Zusätzlichen Komfort bieten Scheuereinrichtungen, die in fast allen Betrieben zur Verfügung standen. Bei einigen Betrieben wurden zur Erhöhung der Laufaktivität Weidegang und Laufhöfe bzw. nur teilüberdachte Laufgänge angeboten. Insgesamt konnten alle Betriebe der Milchviehhaltung als tiergerecht bis sehr tiergerecht bewertet werden.

Schweinehaltung

Es wurden 9 Schweinebetriebe (4 Ferkelerzeuger, 1 Ferkelaufzucht- und 4 Mastbetriebe) nach Tiergerechtheit bewertet. Bei nur zwei Betrieben konnte der Deck- und Wartebereich durchgehend als fehlerfrei beurteilt werden. Insbesondere die Wasserverabreichung und die Beschäftigungsmöglichkeiten waren mangelhaft. In einem Betrieb war die Hygiene aufgrund fehlender Trennungen zwischen den verschiedenen Produktionsbereichen sehr problematisch. Im Abferkelbereich waren insbesondere die Aktivitäts- und Ruhebereiche bemängelt worden. Die Bewegungs- und Ruhemöglichkeiten der Sauen waren eingeschränkt. Stroh im Abferkelbereich ist für die Sauen sehr positiv zu bewerten. In den Bewegungsbuchten muss aber genügend Platz zur Verfügung stehen. Die Temperaturbedürfnisse der Ferkel müssen insbesondere im Winter in Außenklimaställen berücksichtigt werden. In den Deckbereichen konnten keine Mängel festgestellt werden.
Bei den Mastbetrieben konnte kein Betrieb als völlig fehlerfrei bewertet werden. Es waren insbesondere die hygienischen Bedingungen (Trennung in Schwarz-Weiß-Bereich und Tierzukauf aus mehreren Betrieben) mangelhaft. Die Sauberkeit der Ruhebereiche war auch bei Zweiflächenbuchten im Sommer teilweise problematisch. In eingestreuten Haltungen traten hier ebenfalls Mängel auf. Die Beschäftigungsmöglichkeiten waren nur bei 2 Betrieben ausreichend installiert.
Die „klassischen Konflikte“ bei der Schweinehaltung konnten auch in den Pilotbetrieben nicht gelöst werden. Insbesondere in der ökologischen Schweinehaltung müssen weitere Entwicklungen getätigt werden.

Geflügelhaltung

Es wurden insgesamt 3 Legehennenställe und ein Putenmaststall bewertet.
Betrieb A
Hier fielen das gute Platzangebot, das Vorhandensein eines Kaltscharrraumes sowie das sehr gute Stallklima (kein Staub) auf. Die Nestfläche war großzügig kalkuliert, die Gruppengrößen mit bis zu 900 Tieren je Gruppe waren gut. Die Tiere wurden mit 18 Wochen eingestallt und hatten damit ausreichend Zeit, sich vor Beginn der Legeperiode an den neuen Stall zu gewöhnen. Das Tränkeangebot war gut kalkuliert, die Fressfläche jedoch knapp bemessen. Durch die Queraufstallung der drei Altersgruppen ergaben sich hygienische Probleme und folgeträchtige Schwierigkeiten in der Fütterung. Ein großes Problem stellte das ausgeprägte Federpicken dar. Die Voliere mit Ganzrostboden und Kaltscharrraum ist hygienisch ein sehr gut funktionierendes Haltungssystem, jedoch fehlt den Legehennen ausreichende Beschäftigung im Stall in einem InnenScharrraum. Damit dieses Haltungssystem insgesamt funktionieren kann, muss das komplette Management (Rein-Raus, Lüftung, Phasenfütterung, Beschäftigungsmöglichkeiten, täglicher Zugang in den Kaltscharrraum) stimmen, was hohe Anforderungen an den Betriebsleiter stellt. Die Voliere mit Ganzrostboden und Kaltscharrraum stellt eine tiergerechte und zukunftsfähige Variante für die Legehennenhaltung dar.
Betrieb B
Auf diesem Betrieb gefielen das gute Platzangebot, das Vorhandensein eines großzügigen InnenScharrraumes und Kaltscharrraumes. Fressfläche und Tränkeangebot waren gut kalkuliert. Die Nestfläche war zu knapp, die Gruppengrößen mit bis zu 1500 Tieren je Gruppe waren akzeptabel, problematisch für Mensch und Tier war die starke Staubentwicklung im Stallgebäude. Die Tiere wurden mit 18 Wochen eingestallt. Durch die Aufstallung der drei Altersgruppen mit nur einem Futter- und Kotband ergaben sich hygienische Mängel und Probleme der bedarfsangepassten Fütterung. Das Haltungssystem Voliere mit Innen- und AußenScharrraum ist als tiergerecht zu bewerten.
Betrieb C
Positiv fielen das gute Platzangebot sowie das Vorhandensein eines InnenScharrraums und eines Grünauslaufes auf. Die Nestfläche war auch großzügig kalkuliert. Die Gruppengröße (500 Tiere), nicht zuletzt durch die Stallgröße bedingt, war aus Sicht der Tiere als sehr gut einzustufen. Die Tiere wurden mit 18 Wochen eingestallt. Die Nestfläche sowie Fressfläche und das Tier-Tränke-Verhältnis waren gut kalkuliert. Der komplette Stall wurde im Rein-Raus-Verfahren mit ausreichend langen Leerzeiten belegt, was aus hygienischer Sicht sehr positiv war. Auffällig waren bei beiden Betriebsbesuchen die sehr neugierigen und vitalen Hühner und das geschlossene glänzende Federkleid, ein Zeichen für das Funktionieren dieses Haltungssystems. Mobilställe ohne festen Boden sind aus Umweltschutzgründen heutzutage nicht mehr Stand der Technik. Der Mobilstall des Betriebes C stellt ein sehr tiergerechtes Haltungssystem dar und ist für kleine Tiergruppen als alternative Haltungsvariante gut geeignet.

Schlussfolgerungen

Die in diesem Pilotprojekt durchgeführte Bewertung der Tiergerechtheit ist eine Methode Haltungssysteme ganzheitlich zu beurteilen. Dabei werden die einzelnen Funktionsbereiche eines Stalles (Liegen, Laufen, Fressen/Trinken, Komfort usw.) nach baulicher Ausführung, Verhalten, Sauberkeit und Hygiene mit Hilfe von Checklisten bewertet. Für jeden Bereich gibt es bereits in der Praxis und Forschung erarbeitete Optimalwerte, die mit dem verglichen werden, was im Stall vorgefunden wird. Dieser Vergleich ergibt für die einzelnen Bereiche eine Bewertung in positiv, teilweise positiv und negativ. Ein weiterer wichtiger Bestandteil des Bewertungsbogens ist die Beurteilung der Verschmutzungen und Verletzungen.
Rinderhaltung
Diese Bewertung ist bei Rindern im Stall relativ leicht möglich, bei Mutterkühen auf der Weide jedoch schlecht durchführbar. Problematisch ist die Beurteilung von Verletzungen bei Tieren, die im Laufe eines Jahres bzw. Laktation mehrere Stallsysteme durchlaufen, wie es bei mehreren Pilotbetrieben der Fall ist, in denen die trockenstehenden Kühe in Altgebäuden untergebracht sind bzw. bei denen der neu gebaute Pilotstall erst kurz vorher bezogen worden ist. Eine exakte Ursachenbenennung ist in diesen Fällen kaum möglich.
Schweinehaltung
Im Bereich der Schweinehaltung war eine Beurteilung der Verschmutzung und Verletzungen von Einzeltieren nicht durchführbar. Auf den Geflügelbetrieben wurde jeweils der Gesamtbestand hinsichtlich Gesundheit bewertet.
Problematisch war in allen Bereichen, dass jeder Betrieb nur einmal im Sommer und einmal im Winter bewertet wurde, d.h. es wurde der Zustand an zwei Stichtagen beurteilt, die nicht in jedem Fall für das Stallsystem repräsentativ sein müssen (z. B. Beurteilung der Buchtensauberkeit in Schweinemastställen an extrem heißen Sommertagen). Ein häufigere Beurteilung eines Stalls ist für eine fundierte Einschätzung unbedingt angeraten.
Checklisten
Die Bewertung der Tiergerechtheit mit Hilfe spezieller Checklisten ist eine Möglichkeit, Fehler bei der Haltung aufzudecken und kann somit zur Verbesserung von Haltungssystemen beitragen. Selbstverständlich üben Managemententscheidungen (z. B. Fütterung, Klauenpflege beim Rind usw.) oder die Mensch-Tier-Beziehung auf das Funktionieren eines Haltungssystems aus, so dass nur das gute Zusammenspielen aller Faktoren die Tiergerechtheit einer Haltung ausmacht.
Weitere Forschungsaktivitäten sind in dieser Richtung notwendig, um die Bewertung der Tiergerechtheit exakter und objektiver durchführen zu können. Möglichkeiten wären Verhaltenserfassungen über längere Zeiträume mit automatisierten Datenloggern.
Die Bewertung der Tiergerechtheit kann jedoch nicht nur vom Landwirt zur Verbesserung der Tiergerechtheit genutzt werden, sondern auch von kontrollierenden Einrichtungen oder Organen für die Einhaltung von Haltungsvorschriften bzw. in Zusammenhang mit Cross Compliance eingesetzt werden.
Projektinformation
Projektleitung: Prof. K. Reiter
Projektbearbeitung: A. Koßmann, S. Tutsch
Laufzeit: 2003 - 2006
Finanzierung: Bayerisches Staatsministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Übergeordnetes Projekt: Artgerechte, umweltverträgliche und wettbewerbsfähige Tierhaltungsverfahren

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